Wer die Farben spürt - Leseprobe

Ich stehe an Mamas Grab und stoße die Schaufel in die Erde wie ein verschütteter Minenarbeiter, der versucht, sich einen Weg aus der Hölle zu graben. Anstatt traurig zu sein, breche ich in Wuttränen aus. Sie hatte immer von einer Farm geträumt, einer Farm in Afrika. Voller Wucht schleudere ich die Ladung meiner Schaufel in das Loch vor mir und zucke zusammen, als die Erde auf den Sargdeckel bollert. Ich kann meine Hände nicht dazu bringen, mit dem Zittern aufzuhören, deshalb umklammere ich den Schaufelstiel so fest mit beiden Händen, als wäre es ein Baseballschläger, mit dem ich eine Schaufensterscheibe zertrümmern will. Gerade schaue ich noch in das Grab vor mir, da spüre ich, wie sich mein ganzer Körper dreht. Ich kann nichts dafür, es passiert von ganz allein, ich wirbele zu meinem Vater herum und schmettere ihm das Schaufelblatt ins Gesicht. Ich kneife meine Augen zusammen und die Welt vor mir verzerrt sich zu einem schmalen Streifen. Ich weiß, dass mein Vater schreit, ich kann es sehen, aber ich höre es nicht. Plötzlich umklammert mich der Mann, der die ganze Zeit dicht neben mir stand so fest mit seinen Armen, dass mir die Schaufel augenblicklich aus den Händen fällt. Ich versuche mich loszureißen, ich will die Schaufel zurück, ich will wieder ausholen, ich will meinen Vater schlagen. In die Grube will ich ihn stoßen. Er gehört dort hinein, nicht meine Mutter. Der fremde Mann zieht mich zurück und Marlena eilt ihm zur Hilfe. Ich frage mich, warum sie das tut. Ich dachte, sie sei meine Freundin. Ich versuche immer wieder stehen zu bleiben und meinen Vater anzusehen. Ich wünschte, meine Augen könnten Gift verspritzen. Aber sie können es nicht. Der Pastor hält meinen Vater mit einer Hand am Arm fest und drückt mit seiner anderen ein Taschentuch auf dessen Gesicht, vielleicht um das Blut zu stoppen, das aus der Nase läuft, vielleicht aber auch, um ihn am Fluchen zu hindern. Bestimmt flucht mein Vater, ich weiß es, ich muss es nicht hören. Marlena und der Mann drängen mich fort, sie ziehen und zerren an mir herum, aber ich schaffe es schließlich doch, mich loszureißen. Sie beobachten mich, als müssten sie aufpassen, dass ich nicht sofort zurücklaufe, um meinem Vater Schlimmeres anzutun, aber sie lassen mich neben ihnen hertrotten. Es hat aufgehört zu regnen, aber die Luft schmeckt immer noch nach vermoderndem Laub. Aus der Eiche neben dem Friedhofstor tropft es wie aus einer undichten Dusche und zwischen den nassen, gelben Blättern verstecken sich zwei Krähen. Ich kann sie hören. So wie ich auch meinen krächzenden Vater hinten an den Grabstellen plötzlich wieder hören kann. Ob die Krähen mich beobachtet haben? Vielleicht sitzen sie bei jeder Beerdigung hier und gucken zu. Hinterher ziehen sie dann über die Trauergäste her oder machen sich lustig, wenn jemand aus der Rolle fällt. Ich bücke mich und hebe einen Stein auf. »Haut ab ihr blöden Biester!«, kreische ich und schleudere den Stein in den Baum. Er trifft eine Krähe, die wild mit den Flügeln schlägt, aber nicht fortfliegt. Marlena schlingt sofort ihre Arme um mich, als müsste sie mich beschützen. Wer hat denn den Stein abbekommen, die Krähe oder ich? »Lass mich los!« Ich drehe mich hastig zur Seite und schüttele Marlena ab wie eine lästige Fliege. Trotzdem lasse ich es mir gefallen, dass sie mich kurz darauf in das Auto des Mannes drängt, den ich gar nicht kenne. Meine Finger streichen über die vielen kleinen Risse im Leder der Rückbank. Marlena sitzt neben mir. Es riecht nach Vanille. Nicht nach der Vanille, die so wunderbar schmeckt, wenn man sie in Käsekuchenteig rührt, sondern nach diesem künstlichen Duft, der von kleinen Papptannenbäumen kommt, die sich manche Leute ins Auto hängen. In diesem Auto hängt kein Duftbäumchen aber es riecht trotzdem danach. Warum sitzen Marlena und ich beide auf dem Rücksitz, wo doch der Beifahrersitz frei ist? Ich gucke mir im Rückspiegel das Gesicht des Mannes auf dem Fahrersitz an. Er ist mir gar nicht so fremd, nur weiß ich nicht woher ich ihn kenne. Ich lehne mich zur Seite und sehe aus dem Fenster. Meine Augenlider flackern noch immer. Die Welt erscheint mir wie ein verzerrtes Bild auf einem Fernseher, wenn die Antenne auf dem Dach vom Sturm verbogen ist. Das ist meine Wirklichkeit. Es passt, dass ich diese Welt nur durch eine Glasscheibe sehe und nicht mehr den Wind spüre, der mir noch kurz zuvor meinen Rock zwischen die Beine gepresst hat. Es passt, dass ich die Tannennadeln und Friedhofshecken nicht riechen und meinen Vater nicht hören kann, der am Grab meiner Mutter vielleicht gerade jetzt das Vaterunser betet, als würde er wünschen, dass meine Mutter im Himmel ihren Seelenfrieden findet. Ich lege meine Hand auf meine Halsschlagader, aber es gelingt mir nicht, das Pochen zu verlangsamen. Ich habe Angst, dass mir die Ader platzen könnte und das ganze Blut auf meinen Pullover spritzt. »Ich will zu Mama«, flüstere ich. »Wir kommen später noch einmal wieder«, verspricht der Mann und wir sehen uns im Rückspiegel an. Dann startet er den Motor. Ich sehe wieder aus dem Fenster. Wir fahren um eine lang gezogene Kurve und ich stelle mir vor, dass nicht das Auto fährt, sondern dass sich die Erde dreht, wie ein Karussell und dass die Bäume an uns vorbei geschoben und Häuser an einem unsichtbaren Faden gezogen werden und die Menschen Marionetten sind, die nur bewegt werden, weil sie ein Publikum haben, uns, die wir in einem Auto sitzen, dessen Räder sich auf der Stelle drehen. Ich warte bis der Mann wieder in den Rückspiegel guckt. »Ich hatte keine Farm in Afrika«, sage ich, als er endlich wieder zu mir sieht. »Was?«, fragt er, obwohl ich sicher bin, dass er mich genau verstanden hat. »Ich hatte keine Farm in Afrika, und ich hatte auch keine Farm in Amerikas wildem Westen, obwohl ich schon als Kind davon geträumt hatte, einmal ein richtiges Cowgirl zu werden und Rinder mit dem Lasso einzufangen.« Er guckt wieder nach vorn und ich weiß genau, dass es nicht darum geht, auf den Verkehr zu achten - was natürlich sehr wichtig ist. Er will mir gar nicht zuhören. Ich rede dennoch weiter. »Ich hab mich immer auf einem wilden Mustang durch die Prärie reiten sehen, dabei habe ich noch nie im Leben auf einem Pferderücken gesessen. Unglaublich, wenn man bedenkt, dass ich direkt neben einem Bauernhof in Niedersachsen aufgewachsen bin, oder?« Ich warte auf ein Kopfnicken im Autospiegel, aber der Mann blickt nicht zurück. Mir ist nicht zum Lachen. Ich tue es trotzdem und wische mir mit dem Arm über die Augen. Marlena legt ihre Hand auf meine. »Zu Niedersachsen sagt man auch Pferdeland«, sage ich laut, um sicher zu gehen, dass der Mann mich gut hören kann. Woher er wohl kommt? Woher kenne ich ihn nur? Marlena hält meine Hand jetzt mit ihren beiden Händen ganz fest, einer ihrer Mundwinkel zuckt, so als wolle sie lächeln und traut sich nicht. Marlena war früher meine beste Freundin, dann war sie mal nicht mehr meine Freundin und nun ist sie wieder meine Freundin. Ich glaube kaum, dass es eine bessere Freundin geben kann. Sie hat früher auf dem Bauernhof in unserer Straße gelebt. Die Autoräder rumpeln über einen Bahnübergang, jemand schiebt Andreaskreuze vor dem Autofenster her. Dann kommen Felder, deren Erde vom Regen so dunkel ist, wie die Zaunpfähle der Wiesen an denen der Stacheldraht mit verzinkten Krampen befestigt ist. Das kann ich nicht sehen, das weiß ich. Der Herbst war so schön, dass die Bauern noch Ende September Nachheu machen konnten. Jetzt aber sieht das Gras wie welker Salat aus, riecht auch so und wahrscheinlich schmeckt es den Kühen auch so, denn es sind keine mehr auf den Weiden. In der Ferne ist ein Berg, den der Kulissenmaler in unterschiedlichen grauen Tönen angemalt hat, feine Streifen in der Farbe von weißem Pfeffer sind die einzig hellen Kontraste. Bestimmt hatte der Maler jemanden, der ihm die Farben gemischt hat. Ich drehe mich um. Ich will den Berg nicht ansehen müssen. Wir parken dicht am See und ohne zu fragen, wohin wir gehen, trotte ich wieder hinter dem Mann und Marlena her. Der Reißverschluss meiner Jacke klemmt, darum halte ich sie mir nur zu. Der Wind kriecht trotzdem darunter, ich bekomme eine Gänsehaut. Wieso nur habe ich einen Rock an, einen Rock? Am liebsten würde ich ihn mir vom Leib reißen und in die nächste Mülltonne werfen. Es ist kalt. Hätte ich nur Handschuhe dabei, dann würde ich jetzt nicht so frieren und meine Finger wären nicht weiß wie abgenagte Knochen. Aber ich habe nur rote Handschuhe und die wollte ich heute nicht anziehen. Der Mann zündet sich eine Zigarette an und der Rauch weht zu mir. Viele Raucher haben gelbe Zähne. Ob der Mann gelbe Zähne hat? Ich muss später mal darauf achten. Vor der Eingangstür eines Cafés drückt er seine Zigarette in einem Aschenbecher aus. Kurze Zeit später sitzen wir in dem Café am Steinhuder Meer direkt am Fenster und ich blicke auf das Meer, das eigentlich ein See ist. Dort schwimmen kleine Sonnenlichter auf den Wellen und es sieht aus, als wäre es so warm, dass man schwimmen gehen könnte. Ich reibe meine Hände aneinander. »Zieh deine Jacke aus, Elly«, sagt Marlena, hilft mir und hängt den Anorak an eine Garderobe, die aussieht, als müsse sie mal poliert werden. Genau wie die Kronleuchter an der Decke des großen Raumes und die kleinen Messinglampen auf den Tischen. Es riecht nach Tapetenkleister und Staub, dabei sollte es hier nach Fisch riechen. Marlena sitzt neben mir, der Mann sitzt mir gegenüber. »Möchtest du was essen?«, fragt er mit leiser Stimme. »Nein«, antworte ich. »Ich auch nicht«, sagt Marlena, blättert in der Getränkekarte hin und her und bestellt sich schließlich eine heiße Schokolade. »Ich hätte gern ein Kännchen Kaffee«, sagt der Mann kaum hörbar und ich wundere mich, dass die Kellnerin nicht nachfragen muss. »Ich nehme auch Kaffee«, sage ich. »Tasse oder Kännchen?«, fragt die Kellnerin. «Kännchen«, sagt der Mann, obwohl sie mich gefragt hatte. Als der Kaffee kommt, lege ich meine Hände um die Tasse und allmählich wird meine Haut wieder rosiger und mir wird wärmer. Über dem See ziehen Wolken dahin. Eine sieht aus wie ein Pferd, wie ein Pferd ohne Beine. Ein Pferd ohne Beine kann nicht laufen, nicht leben. Im wilden Westen haben sie ein Pferd schon dann erschossen, wenn es sich nur ein Bein gebrochen hatte. Ein Pferd ohne Beine kann nur als Wolke existieren. Ich habe zwei gesunde Beine, kann laufen und springen, tanzen und rennen, aber ich komme mir vor wie amputiert. Werde ich morgen noch laufen und leben können? Was wird übermorgen sein und überübermorgen? Mama war schon in der Klinik, als ich damals zurück nach Deutschland kam und seitdem habe ich jede freie Minute bei ihr verbracht. Ich muss an Pete denken. Ich sollte mich bei ihm melden, ich habe es ihm versprochen. Mein schlechtes Gewissen versucht jeden Tag aufs Neue mich umzubringen. Ich spüre es jeden Morgen beim Aufstehen, wenn mein Herz schmerzt, als würde jemand mit dem Skalpell ein kleines Stück herausschneiden. Das Wolkenpferd bekommt einen Höcker und sieht nun aus wie ein Kamel. Vielleicht sind seine Beine gar nicht amputiert, vielleicht liegt das Kamel nur und ruht sich aus. Marlena zieht eine Linie durch den Sahnetuff auf ihrem Kakao, steckt sich den Löffel verkehrt herum in den Mund und leckt ihn ab. »Ist dir wieder warm?« Ich nicke. Der Mann hat keinen Zucker in seinen Kaffee getan, rührt aber trotzdem in seiner Tasse herum, als müsse er einen ganzen Zuckerberg darin auflösen. »Deine Mutter hat den allerbesten Kaffee gekocht«, murmelt er und ich nicke ohne zu überlegen. Dann zucke ich zusammen und reiße meine Augen auf und gucke den Mann genau an. Plötzlich weiß ich, wer er ist. Ich verschlucke mich fast. »Herr Winterfeld«, rufe ich aus, als wäre ich der Teilnehmer einer Quizshow, dem in der letzten Sekunde die richtige Lösung einfällt. »Hattest du Herrn Winterfeld gar nicht wiedererkannt, Elly?«, Marlena dreht sich zu mir herum, den Löffel noch immer wie einen Lolly im Mund. Ich lehne mich zurück und starre Herrn Winterfeld an. Plötzlich rieche ich frisch gemähtes Gras und Rosenduft und Sonnenöl. Ich höre das Quietschen unserer alten Gartenliege, wenn Mama sich auf den Bauch drehte, damit sie ihren Rücken der Sonne zuwenden konnte und unsere Laubentür knarrt in meinen Ohren, ich stecke die Fingerkuppe meines Zeigefingers in den Mund. So wie damals, als ich mich verbrannt hatte, bei dem Versuch, ein Teelicht in ein Glas zu stellen. Es war Sommerfest in unserer Gartenkolonie und Mama und ich hatten ganz viele Gläser im Garten verteilt und am Abend zündeten wir lauter Kerzen an und stellten sie in die Gläser, das sah wunderschön aus. Das fand Herr Winterfeld auch. Und er fand auch, dass Mama wunderschön aussah. Er hatte den Kleingarten direkt neben unserem. Wäre es nicht so ein furchtbar trauriger Tag, würde ich mich riesig freuen, Herrn Winterfeld wiederzusehen. »Ich habe Sie lange nicht gesehen«, stelle ich fest. Herr Winterfeld sagt nichts. »Wo waren Sie denn?«, frage ich und merke selbst, dass es klingt, als sei er nur fünf Minuten vor der Tür gewesen. Tatsächlich kam er eines Tages nicht mehr in seinen Garten. Das Gras wurde nicht mehr gemäht, das Unkraut wuchs in den Beeten und im Herbst fielen die Äpfel auf die Erde und verfaulten, weil sie niemand erntete. Erst im nächsten Frühjahr haben neue Pächter den Garten übernommen, kurz bevor Papa sagte, wir brauchen keinen Kleingarten mehr. Wie schade, dass Mama Herrn Winterfeld jetzt nicht sehen kann. Sie mochte ihn so gern. Hätte er sie doch nur in der Klinik besucht, es hätte ihr gut getan. Papa und Herr Winterfeld mochten sich überhaupt nicht gern, das weiß ich genau, obwohl ich noch ein Kind war, damals als wir den Garten hatten. »Wo waren Sie denn?«, frage ich noch einmal. Herr Winterfeld zuckt mit den Schultern, als wüsste er selbst nicht, wo er all die Jahre gewesen ist. »Wo warst du denn, Elisabeth? Ich habe gehört, du warst in Amerika.« Ich warte einen Moment bevor ich antwortete, nicht, weil ich nicht weiß, wo ich war, denn es stimmt, ich war in Amerika. Wahrscheinlich hatte Marlena es ihm erzählt. Herr Winterfeld nimmt meine Tasse, füllt Kaffee nach und reicht sie mir herüber. Ich halte die Untertasse mit meiner linken Hand fest und meine rechte Hand spielt mit der Tasse, dreht sie nach vorn und zurück, wieder vor und wieder zurück. Ich beobachte den hin- und herschwappenden Kaffee, dann trinke ich die Tasse in einem Zug leer und stelle sie auf den Tisch zurück. Ich presse mich gegen die gepolsterte Rückenlehne meines Stuhls und hole tief Luft. Ob dieser Staubgeruch hier im Café von diesen Polstern kommt? Vielleicht müssten sie mal tüchtig ausgeklopft werden. Ich spüre wie Marlena ihren Arm um mich legt und diesmal lasse ich es mir gefallen. Meine Hände streichen über meinen Bauch und ich sehe aus dem Fenster, während ich zu erzählen beginne. »Ich war in Arizona«, flüstere ich ohne Hannes Winterfeld anzusehen,»das ist der Grand Canyon Staat, ich war aber nie am Grand Canyon. Mama hat geweint, als sie und Papa mich zum Flughafen gebracht haben. Papa war es ganz egal, was ich vorhatte. Er lachte nur dieses komische Lachen, das er immer dann lachte, wenn er mir irgendwas nicht zutraute.